Worldbuilding: Bailín auf dem Hügel
In jenen Tagen geschah in Bailín nie etwas Außergewöhnliches. Es war genau wie all die anderen unzähligen kleinen Dörfer, die man damals im Jahr 1877 n. L. überall an der errischen Küste verstreut fand. Auf den Karten der Magister hätte man sie leicht mit versehentlich gefallenen Tintentropfen verwechseln können, so unscheinbar und unbedeutend waren sie.
Bailín ist ein ruhiges und beschauliches Dörfchen an der errischen Küste, etwa 80 Meilen westlich von Santísmer gelegen, wenn man den Straßen folgt, und fünfzig, wie der Falke fliegt. Es befindet sich auf einem sanften Hügel, von welchem aus man die errische See überschaut. Der Name leitet sich ab von den Wörtern bae (was “Bucht” in der alten Sprache Errions bedeutet) und lín (“Leinen”).
Seine Bewohner, zumeist Fischer, Weber und Bauern, leben vom Meer, vom Webstuhl und von dem, was die Felder südlich des Dorfes bieten. Sie sind ruhige Menschen, ein wenig verschlossen und stur, und Fremden gegenüber misstrauisch, wie die meisten Menschen Errions es eben einmal sind, zugleich aber sind sie stolz, tapfer und zäh, und untereinander freundlich und einträchtig. Zu den Sonnenwenden gibt es in Bailín, wie in allen Orten Errions, stets ein großes Fest mit einem Feuer, das hoch in die Nacht prasselt, und um das alle tanzen, lachen und trinken. Von dem, was sich jenseits ihres Dorfes in der Welt tut, bekommen sie kaum etwas mit; Nachrichten erreichen das kleine Küstendorf meist nur zufällig, etwa wenn sich ein fahrender Händler dorthin verirrt und im Gasthaus zum Roten Weber ausgefragt wird, oder wenn es dann doch einmal einen von ihnen oder aus den Nachbardörfern nach Santísmer verschlägt.
Erste Erwähnung in den Chroniken von Santísmer fand Bailín im Jahr 877 n. L.: Damals trieben die Menschen aus dem Dorf regen Handel mit dem Sandsteinhafen; sie verkauften Leinenstoffe und Segeltücher, was dem Küstendorf einen bescheidenen Wohlstand einbrachte. Dieser Handel ging jedoch mit dem Verfall der Alten Westkönige (mit dem frühzeitigen Tod Alains des Jüngeren) ein und fand danach nie wieder zur alten Betriebsamkeit zurück. In der Großen Zählung aller Einwohner Errions nach der Eingliederung der Westlichen Küstenlanden ins H. E. R. im Jahre 1138 n. L. auf Geheiß von Großkaiser Zenon II. wird Bailín noch einmal eigens aufgeführt, danach findet es sich nurmehr in den Steuerbüchern der Herzogsstadt wider.
Aber jenseits der Dokumente Santísmers zeigt sich, dass Bailín schon viel älter sein muss. Einige seiner Bewohner behaupten, seine Anfänge reichen gar in die Zeit der Celdennen zurück, lange vor der Landung Bramyns und der Ankunft der Erriennen in diesen Landen, welche damals noch nicht Errion hießen, und dass in ihren Adern noch das dicke Blut der Celdennen flösse (so etwa die Familie Kellens, welche zum Zeitpunkt des Fundes von Sekhems Fluch seit mehreren hundert Jahren schon die Dorfmeister und damit die Oberhäupter des Dorfes stellte).
Die Magister, welche die Große Zählung im Auftrag Líohims durchführten und dabei durch die Dörfer der Westlichen Küstenlanden kamen, wollten zugleich auch die Geschichten dieser zusammentragen; sie hielten wenig von den Behauptungen, Bailín sei recht viel älter als es die Bücher der Alten Westkönige besagten, und noch weniger davon, es hätte schon im Grauen Alter gestanden.
Davon jedoch ließen sich die Bewohner damals wie heute nicht beirren; sie halten an ihrer Geschichte fest und verweisen auf das, was heute noch davon geblieben ist: So etwa finden sich nur wenige Meilen südlich von Bailín, hinter dem hohen Hag (einer dichten, dunklen Hecke), dutzende Hügelgräber der Celdennen, von Wald und Gestrüpp verborgen, von Schatten bedeckt; von den Bewohnern der Gegend gemieden, nicht aber vergessen. Außerdem befindet sich im alten Línhaus, dem Haus, in dem früher die Weber gearbeitet haben und in dem heute die Kinder aus Bailín und den umliegenden Dörfern Aray und Dinan an den Sonntagen unterrichtet werden, ein großer Wandteppich, verstaubt und vom Alter verblichen. Von diesem heißt es, dass er in den Tagen des Wohlstands durch Santísmer hergestellt wurde. In aufwendigen, wenngleich auch abgenutzten und abgewetzten, Stickereien mögen manche auf ihm Krieger der Celdennen dargestellt sehen, die in Freundschaft mit den Erriennen aus dem Norden leben.
Bessere Hinweise im Hinblick auf die Geschichte bailins liefert die Chronik des Dorfes, welche, von den Ältesten zu allen Zeiten gepflegt, im alten Linhaus aufbewahrt wird und noch um einiges weiter zurückreicht, als die ersten Erwähnungen in den Schriften Santísmers. Die ältesten Einträge hierin sind zwar mittlerweile durch die vielen Jahre schon so gut wie unkenntlich – und überdies ohnehin in einer sehr unleserlichen Schrift und altertümlichen Weise verfasst – doch lassen sie sich mit Mühe und Kenntnis noch entziffern. Leider weisen diese ältesten Eintragungen selbst keine brauchbaren Datierungen auf, doch beinhalten sie Hinweise auf Ereignisse, welche sich mit jenen von anderswo abgleichen lassen und so eine zeitliche Einordnung ermöglichen; das älteste so erhaltene Datum reicht ins fünfte Jahrhundert n. L. zurück. In diesem Jahr habe Ewen der Edelmütige, einer der Alten Westkönige, das Dorf auf einer Durchreise besucht und habe eine Nacht dort verbracht. Zu seinen Ehren wurde ein Fest ausgerichtet.
Weitere wichtige Ereignisse, die in der Chronik aufgeführt werden, sind: der Große Sturm im Frühjahr 611 und der darauffolgende Graue Sommer (Ereignisse, welche gemeinhin auch als das Graue Jahr bezeichnet werden); die Schlacht vor dem Hag im Jahr 695; der Bau der ersten Dorfhalle im Jahr 721; die große Leinmissernte von 746; die Befestigungen und die Verteidigung der umliegenden Küsten nach dem Niedergang der Alten Westkönige. Aus diesen unsteten Zeiten wird berichtet, dass abermals ein König aus Santísmer nach Bailín kam, diesmal jedoch einer der geringeren, ein Prätendent, dessen Name nicht einmal genannt wird, welcher einen so absurd hohen Steuersatz forderte, dass die Menschen ihn davonjagten, er sich in die Wälder südlich des Dorfes floh und nie wieder gesehen wurde.
Ebenso ist festgehalten, dass der Dorfmeister von Bailín im Jahr 1032 wie viele andere seines Standes nach Santísmer gerufen wurde, um dem Rat von Perig beizuwohnen, welcher letztlich die Einsetzung der Neuen Westkönige bestimmte, um der wachsenden Bedrohung Líohims entgegenzuwirken, und dass Bailín in den folgenden fast einhundert Jahren des Widerstands immer wieder Männer entsandte, um wie die Krieger der Celdennen einst für die Unabhängigkeit der Westlichen Küstenlande zu kämpfen. Wie wir heute wissen, waren diese Mühen und Opfer vergebens und Errion wurde ein Kurfürstentum des H. E. R.; im Zuge dessen wurde der Dorfmeister abermals nach Santísmer zitiert, um gemeinsam mit König Nominoe (auch genannt dem Namenlosen) dem Großkaiser Zenon die Treue zu schwören. Interessanterweise spricht sich die Chronik ausdrücklich gegen die anschließende Vertreibung des Nominoe aus, da sich Errion dadurch nur selber schwächte, der Macht des Ostens gegenüber; doch in diese Tat war Bailín nicht verwickelt. (Anm.: die Vertreibung Nominoes wurde durch einen wütenden Aufstand der Bürger Santísmers durchgeführt)
Die größte Probe seiner Geschichte jedoch musste Bailín, wie viele andere Länder des H. E. R., die an den Norden grenzten, während des Großen Reichskrieges von 1695 n. L. bis 1772 n. L. bestehen. Viele Männer wurden hierfür von den Heerführern Líohims gefordert und mussten nach Santísmer ziehen, und weiter zu den Schlachtfeldern im Osten und in den Ländern von Brahí. Gleichzeitig wurden die Küsten Errions lange Zeit durch die Flotte des Nordens belagert; eine Drohung, welcher sich die zurückgebliebenen Alten und mehr noch die Frauen des Dorfes nun alleinig stellen mussten. Doch sie waren stark und hielten Stand und schafften es, sogar einen Angriff abzuwehren; eine Tat, die sie bis heute mit Stolz erfüllt und über die mit Stolz gesungen wird.
In den Jahren nach dem Ende des Reichskriegs wurde die Dorfhalle Bailíns wieder aufgebaut, der Handel lebte wieder auf und Ruhe kehrte einmal mehr ein in dem Dorf an der Küste und alles geht seither seinen gewohnten Gang.
Neben der Dorfhalle mit dem Glockenturm und dem bereits erwähnten alten Línhaus gibt es in Bailín noch eine Schmiede, einen Marktplatz, ein Fischhaus, das Gasthaus zum Roten Weber, in dem sich allabendlich die Männer aus dem Dorf und gelegentlich auch Durchreisende auf einen – zumindest beginnt es mit einem – Tassenkrug Apfelwein und Met einfinden, sowie die Bäckerei, die von Fionns Großmutter betrieben wird. Außerhalb der buckeligen Dorfmauer, am unteren Hang des Hügels befindet sich dann noch das umfriedete Gräberfeld mit einer kleinen Kapelle (im Zuge der Einführung des Glaubens an die Fünfheit Líohims nach der Eingliederung ins H. E. R. zwar umgeweiht, doch ursprünglich ebenfalls noch aus den Tagen des Wohlstands und, so behaupten die Alten jedenfalls, auch noch unter dem Schutz der vielgestaltigen Götter der Celdennen), und den Wachturm, welcher sich im Nordwesten erhebt.
Der Wachturm ist an die Dorfmauer angebaut und war in den unsteten Zeiten nach dem Niedergang der Alten Westkönige von den Menschen aus dem Dorf errichtet worden, als die errischen Küsten oft von Piraten und Söldnern aus Arnis und von der Insel Cervos im Bettlermeer überfallen wurden; hiervon berichtet zum einen wieder sowohl die Chronik wie auch die Muhme Marzhina in den Sonntagsstunden im alten Línhaus. Im Jahre 1877 n. L. gab es jedoch keinen Menschen mehr in Bailín, nicht einmal die Ältesten, der den Klang der Messingglocke mit eigenen Ohren vernommen hatte, die in den alten Tagen (zuletzt so in jenen des Reichskrieges) Gefahr verheißen hatte. Trotzdem bestand der Dorfmeister von Bailín darauf, dass allezeit jemand auf dem Turm Wache und Ausschau hielt.
In den letzten Jahren hatte man allerlei Seltsames gehört, der rätselhafte Tod des alten Großkaisers Valentyn beunruhigte manche und das Erscheinen des harmlos wirkenden Flicken-Frém im Jahr darauf war auch nicht allen ganz geheuer; und dann kommt es im Juli des Jahres 1877 n. L. schließlich durch Fionn, Feonns Sohn, zu jenem schicksalshaften Fund, der die Ruhe um Bailín beenden und den Lauf der Dinge für immer verändern wird …